Zwischen Nähe und Distanz: Über Abgrenzung und Durchlässigkeit
In einer meiner letzten Supervisionen ging es um ein Thema, das in helfenden Berufen immer wieder auftaucht: Abgrenzung. Viele Menschen, die in sozialen, pädagogischen oder therapeutischen Kontexten arbeiten, stehen vor der Herausforderung, sich vor den oft intensiven Emotionen und Belastungen ihrer Klient:innen zu schützen. Die Frage, wie viel Nähe möglich und wie viel Distanz notwendig ist, beschäftigt viele – und führt nicht selten zu inneren Konflikten.
Die gängige Empfehlung lautet oft: „Du musst dich besser abgrenzen.“ Doch genau diese Haltung haben wir in der Supervision kritisch hinterfragt. Am Ende der Sitzung war klar: Abgrenzung allein ist nicht die Lösung. Vielmehr geht es darum, eine Haltung der Durchlässigkeit zu entwickeln – eine Fähigkeit, sich berühren zu lassen, ohne sich dabei zu verlieren.
Der Einstieg: Die Angst vor Überforderung
Die Diskussion begann mit der Schilderung einer Teilnehmerin, die von einem besonders belastenden Fall berichtete. Sie hatte das Gefühl, von den Emotionen ihrer Klientin regelrecht „aufgesogen“ worden zu sein. „Ich weiß, ich sollte mich besser abgrenzen“, sagte sie. „Aber wie soll ich das machen, ohne kalt oder gleichgültig zu wirken?“ Diese Frage brachte eine spannende Dynamik in die Gruppe. Schnell wurde klar, dass viele ähnliche Erfahrungen gemacht hatten – und dass die Vorstellung von Abgrenzung oft mit einem unangenehmen Gefühl von Distanz oder gar Abschottung verbunden war.
Die Erkenntnis: Abgrenzung kann Nähe verhindern
Im Laufe der Diskussion wurde deutlich, dass Abgrenzung in ihrer klassischen Form – also das bewusste Zurückhalten von Emotionen oder das „Nicht-an-sich-heranlassen“ – in helfenden Berufen problematisch sein kann. Denn genau diese Berufe leben von Empathie und dem echten Kontakt zu anderen Menschen. Wenn wir uns zu stark abgrenzen, verlieren wir die Fähigkeit, uns wirklich auf unser Gegenüber einzulassen. Wir schützen uns zwar vor Überforderung, riskieren aber auch, dass wir nicht mehr authentisch oder präsent sind.
Ein Teilnehmer brachte es auf den Punkt: „Wenn ich mich abgrenze, spüre ich weniger – und dann kann ich auch weniger geben.“ Diese Aussage führte uns zu einer neuen Perspektive: Vielleicht geht es gar nicht darum, sich abzugrenzen. Vielleicht liegt die Lösung vielmehr darin, durchlässig zu sein.
Durchlässigkeit: Sich berühren lassen – und wieder loslassen
Der Begriff Durchlässigkeit wurde zum zentralen Konzept der Sitzung. Durchlässig zu sein bedeutet, die Emotionen anderer Menschen wahrzunehmen und an sich heranzulassen – aber sie nicht festzuhalten. Es geht darum, sich berühren zu lassen, ohne sich davon überwältigen zu lassen. Gefühle dürfen kommen und gehen wie Wellen; sie müssen nicht dauerhaft in uns verweilen.
Ein Bild half uns dabei, dieses Konzept greifbarer zu machen: Durchlässigkeit ist wie ein Fenster, das geöffnet wird. Die frische Luft strömt herein – aber sie bleibt nicht im Raum stehen. Sie bewegt sich weiter. Genauso können wir lernen, Emotionen wahrzunehmen und sie dann wieder loszulassen.
Die Praxis: Wie Durchlässigkeit gelingen kann
In der Supervision haben wir gemeinsam überlegt, wie diese Haltung im Alltag umgesetzt werden kann. Hier einige Ansätze:
- Bewusst wahrnehmen: Erkenne die Emotionen deines Gegenübers an – ohne sie sofort bewerten oder lösen zu wollen.
- Innerlich benennen: Manchmal hilft es schon, innerlich festzustellen: „Ich spüre Traurigkeit“ oder „Da ist viel Wut.“ Das schafft Klarheit.
- Loslassen üben: Stell dir vor, dass die Emotionen wie Wolken am Himmel vorbeiziehen. Sie kommen – und sie gehen.
- Eigene Ressourcen stärken: Durchlässigkeit gelingt besser, wenn du selbst gut geerdet bist. Achtsamkeitsübungen oder kurze Pausen können helfen.
Fazit: Nähe statt Abgrenzung
Am Ende der Supervision war klar: Abgrenzung ist kein Allheilmittel – besonders nicht in helfenden Berufen. Sie kann sogar hinderlich sein, weil sie echte Nähe verhindert. Stattdessen braucht es eine Haltung der Durchlässigkeit: die Fähigkeit, sich berühren zu lassen und gleichzeitig bei sich selbst zu bleiben.
Diese Erkenntnis hat mich tief beeindruckt. Sie zeigt einmal mehr, dass es im Umgang mit anderen Menschen nicht um starre Regeln geht – sondern um Flexibilität und Achtsamkeit. Und vielleicht ist genau das die größte Stärke helfender Berufe: die Fähigkeit, offen für andere zu sein und dennoch immer wieder zurückzufinden zur eigenen Mitte.